Harmonie nicht erst in der Hohen Schule – wie Durchlässigkeit von Anfang an möglich sein kann
Ein Gastbeitrag von Wiebke Hasse
Eins Sein mit dem Pferd, Hilfengebung nur per Gedankenübertragung, ein Gefühl vollkommener Harmonie: Unabhängig von Reitweise und Ausbildungsstand ist dieser Wunsch einer, der uns Pferdemenschen alle miteinander eint.
Wir träumen davon, wie sich unser Pferd voll und ganz auf uns einlässt und bereitwillig auf jede noch so kleine Regung unserer Muskeln sowie jeden Gedanken reagiert. So, dass nicht mehr klar ist, wo ein Körper endet und der andere beginnt – das perfekte Zentaurengefühl.
Wir träumen vom durchlässigen Pferd.
Denn Durchlässigkeit ist genau das: Die Fähigkeit sowie die Bereitschaft des Pferdes, jederzeit auf jede Hilfe ohne jeglichen Widerstand zu reagieren.
Die zwei Komponenten der Durchlässigkeit
Dementsprechend besteht Durchlässigkeit aus zwei Komponenten: Körper und Geist des Pferdes.
Der körperliche Anteil ist das, was das Pferd leisten kann.
Der mentale Anteil das, was das Pferd leisten möchte.
Der körperliche Anteil ist also eng an den Ausbildungsstand des Pferdes gekoppelt. Auch bei höchster Motivation und Willigkeit kann ein Pferd, welches sich aktuell in der Grundausbildung befindet, nicht durchlässig und auf den Punkt aus dem Galopp in den Schritt wechseln oder korrekt versammelt piaffieren.
Der mentale Anteil ist davon aber unabhängig, denn er bedeutet nur, dass das Pferd konzentriert und willig auf mich und meine Hilfengebung reagiert.
Keine körperliche Durchlässigkeit ohne psychische Durchlässigkeit!
Gleichzeitig ist die Psyche des Pferdes auf dem Weg zur vollkommenen Harmonie aber die erste Schwierigkeit und oft auch die anspruchsvollere der beiden Aspekte.
Denn begibt das Pferd sich in die mentale Durchlässigkeit, bedeutet das:
Es ist bereit, seine eigene Agenda aufzugeben, für einen Zeitraum zu 100% bei mir zu sein, sich auf mein Tun einzulassen und zuzulassen, dass alles, was ich als Mensch denke und tue, sich auf seinen Körper, seine Bewegungen und sein Gleichgewicht auswirkt.
So lange es das nicht zulassen kann oder möchte, nützt mir auch der beste körperliche Ausbildungsstand nichts. Der geradegerichtete Rumpf, eine gut entwickelte Versammlungsfähigkeit, eine kraftvolle Hinterhand – so lange ich bei der Benutzung und Ausrichtung dieser Kräfte nicht mitreden darf, kann die Arbeit mit meinem Pferd nicht harmonisch werden, denn mein Wille und der des Pferdes stehen immer mehr oder weniger stark im Widerspruch zueinander.
Ein Pferd muss also entscheiden, dass es lohnenswert ist, sich ganz auf das gemeinsame Tun mit mir einzulassen und sich körperlich hinzugeben: Es muss mir vertrauen.
Durchlässigkeit gibt es nicht ohne Vertrauen
Vertrauen ist unabhängig vom Ausbildungsstand. Das Vertrauen des Pferdes in mich ermöglicht es mir, Durchlässigkeit schon von Anfang an immer wieder erreichen und auch beim weniger gut balancierten oder kraftvollen Pferd mit feinen Hilfen agieren zu können.
Vertrauen lässt sich weder einfordern noch erzwingen. Vertrauen bekommt man geschenkt, weil man wiederholt gezeigt hat, dass man vertrauenswürdig ist.
Ganz grundsätzlich beginnt das also bereits bei der ersten Interaktion mit einem Pferd: Gehe ich freundlich, aufmerksam und offen auf es zu und mit ihm um oder habe ich schon eine bestimmte Agenda im Kopf und ziehe meinen Stiefel mehr oder weniger durch?
Im Training solltest du konkret auf folgende Aspekte achten, um eine Atmosphäre zu schaffen, in der das Pferd dir vertraut und beginnt, immer aufmerksamer auf deinen Körper und deine Gedanken zu achten und zu reagieren:
#1: Anforderungen anpassen
Verlange nichts von einem Pferd, was es nicht leisten kann. Wenn du nicht weißt, was du von diesem Pferd verlangen kannst, beginne bei Null und taste dich Stück für Stück an die Grenze seiner Möglichkeiten heran. Bedenke dabei, dass das Ende der Möglichkeiten auch erreicht ist, wenn ‚nur‘ die Konzentration nicht mehr ausreicht.
Zum Anpassen der Anforderungen gehört auch das Einbeziehen der Tagesform und äußerer Umstände (wie der neuen Baustelle hinter der Halle). Sie alle haben Auswirkungen auf das, was heute möglich ist.
#2:Wahrnehmung vor Einwirkung
Übe, dich nicht in deinem Kopf zu verlieren, sondern mehr im Hier und Jetzt zu sein. Statt ein starres Ziel zu verfolgen, permanent zu bewerten und nach Fehlern zu suchen, übe dich darin, wahrzunehmen, was hier eigentlich gerade passiert.
Dazu gehört auch Achtsamkeit dir selbst und dem Pferd gegenüber: Wie atmest du eigentlich? Was macht dein Körper (deine Beine, dein Becken, dein Rumpf, deine Arme, …) eigentlich, während du dich aufs Pferd fokussieren möchtest?
Und wie reagiert das Pferd auf die treibende oder die verhaltende Hilfe? Wie klappt das Wenden?
Auf diese Art bekommst du mit, was heute möglich ist, wo heute Schwierigkeiten liegen und auch, was euch heute vielleicht einfach zugeflogen kommt – möglicherweise alles ganz anders als gestern noch.
Mit der Zeit kannst du dich so immer feiner ins Pferd hineinfühlen und wirst tatsächlich irgendwann den Eindruck haben, ihr kommuniziert rein über Gedanken.
#3: Ansätze anerkennen
Das Schulen der Wahrnehmung führt außerdem dazu, dass du immer kleinere Ansätze und Versuche des Pferdes bemerkst. Dann kannst du ihm Feedback geben, es anfeuern oder bestärken, wenn du merkst, dass es in die richtige Richtung denkt. Auch wenn das Ergebnis vielleicht noch ein ganzes Stück vom Ziel entfernt ist. Aber was kannst du mehr wollen als ein Pferd, welches mitdenkt und sein Bestes bei der Umsetzung gibt?
Auch das Pferd wird es motivieren und es entwickelt sich mehr und mehr das Gefühl, dass ihr ein Team seid, welches gemeinsam an einer Sache arbeitet. Nicht mehr ‚Anführer‘ und ‚Mitmacher‘ (oder ‚Widerständler‘).
#4: Persönlichkeit zugestehen
Das Beobachten und Einfühlen hilft dir dabei, das Pferd auch als Persönlichkeit immer besser und differenzierter wahrnehmen und darauf eingehen zu können. Der sensible Feingeist, die engagierte Managerin, der Einfach-Los-Macher, die gründlich Überlegte – jeder Charakter möchte etwas anders behandelt und abgeholt werden. Je besser dir das gelingt, desto leichter kann sich das Pferd auf dich einlassen.
#5: Dem Widerstand widerstehen
Widerstand vonseiten des Pferdes auf deine Einwirkung bedeutet immer, dass die Anforderungen in diesem Moment nicht gepasst haben.
Vielleicht war deine Hilfengebung uneindeutig oder kam im unpassenden Moment, vielleicht hat es gerade Sorge, dass der Bagger doch gleich die Hallenwand durchbricht, vielleicht kann es sich einfach nicht mehr konzentrieren, vielleicht hat es keine Kraft mehr, vielleicht hast du mehr gefordert als es leisten kann.
Egal, was der Grund war: Geh zurück auf den kleinsten gemeinsamen Nenner und versuche, das zu finden, was das Pferd jetzt kann. Taste dich dann neu an die Anforderungen heran (siehe 1.) und beobachte, inwiefern du Vorbereitung und Einwirkung noch besser machen kannst (siehe 2.).
Mit der Zeit wirst du auf Druck oder Widerstand vonseiten des Pferdes immer weicher reagieren und in aller Ruhe einen neuen Weg ausprobieren können.
Unter diesen Voraussetzungen ist es möglich, dass auch ein Jung- oder Korrekturpferd ohne sichtbare Hilfen, nur mittels Gedanken, auf deine Einwirkung reagiert.
Die körperliche Umsetzung wird immer nur so weit möglich sein, wie es dem aktuellen Ausbildungsstand entspricht. Aber auch wenn der Übergang deutlicher in die Länge gezogen ist oder der Durchmesser des Zirkels noch sehr großzügig bemessen sein muss, ist es möglich, bereits Momente der Harmonie und der Einheit zu erleben.
Ich freue mich, wenn du diese Gedanken mit zum Pferd nimmst, dich in der Umsetzung übst und wünsche dir immer mehr dieser kleinen magischen Momente!
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