Wie sitzen bei rückständigem Vorderbein?
Ein Gastbeitrag von Vanessa Christin Fautsch von Reiter bewegen
Am besten erst mal gar nicht. Rückständigkeit ist kein kosmetischer Makel, der einem das Foto verdirbt, sondern das Ergebnis unphysiologischer Belastung, verschobener Körperschwerpunkte und gestörter Bewegungsabläufe von Pferd und Reiter.
Was ist überhaupt Rückständigkeit beim Pferd?
Rückständigkeit bedeutet, dass eine (oder beide) Vordergliedmaße(n) nicht mehr physiologisch unterhalb der Schulter in der Beinachse, sondern etwas zurückgesetzt nach schweifwärts (caudal) stehen. Damit einhergehend ist die vermehrte Druck- und Zugbelastung im Stand, sowie in der Stützbeinphase, der caudalen Strukturen der Vorhand. Bei rückständigen Pferden wird die Vorhand mit all ihren Gelenken und Stützstrukturen, wie z.B. dem Kapsel- und Bandapparat, mehr belastet. Besonders leiden der Fesselträger, das Fesselgelenk und die Gleichbeine.
Einseitig vorkommend sind neue und alte Verletzungen, Narbengewebe und Faszienspannung, sowie Kompensationshaltungen und die Schiefe und der aktuelle Trainingsansatz zu beurteilen. Nicht selten spielt auch der Reiter bedingt durch zu hohes Gewicht, fehlende Stabilität der Körpermitte, falsches Verständnis von Sitzhilfen, seiner eigenen Asymmetrie und einem Übermaß an Zügeleinsatz eine wesentliche Rolle.
Beidseitig vorkommend müssen Faktoren wie das Exterieur, die Rasse und der allgemeine Trainings- und Ausbildungszustand berücksichtigt werden. Mein eigener Isländer war im Alter von 6 Jahren beidseits rückständig. Begünstigt durch einen damals tiefen Halsansatz, eine eher steile Schulter, eine schwache Hinterhand ohne ausreichend Schub- und Tragkraft und einen schwachen Rumpfträger (M. serratus ventralis) (Abbildung 1), war die Rückständigkeit unvermeidbar. Seine Kompensationsstrategie beruhte auf der übermäßigen Nutzung des M.Latissimus dorsi. Der große breite Rückenmuskel (M. Latissimus dorsi) verläuft von der Brust- und Lendenwirbelsäule, genauer gesagt vom Dornfortsatzband und der großen Rückenfaszie (Fascia thoracolumbalis) zum Oberarmknochen (Abbildung 2). Er zieht in der Stützbeinphase den Rumpf des Pferdes über die Vordergliedmaße. Manchmal ist auch der Brustmuskel (M.pectoralis profundus) als Synergist (Mitspieler) mit beteiligt und unterstützt diesen zwar energieeffizienten aber auf Dauer unter dem Reiter eher schädlichen Bewegungsablauf. Durch korrektes Training des Rumpfträgers und der Hinterhand konnte ich jedoch die zuvor beschriebenen körperlichen Mängel ausgleichen und teils sogar wegtrainieren.
M. seratus ventralis | Abb. 1
M.Latissimus dorsi | Abb. 2
Woran erkenne ich Rückständigkeit beim Pferd?
Im Wesentlichen gibt es 5 Kriterien
- Verlagerte Beinachse nach caudal
- Verschiebung des Körperschwerpunktes nach vorne
- Schon die ersten Punkte der Ausbildungsskala (Takt, Losgelassenheit und Anlehnung) können nicht erfüllt werden
- Zu viel Vorhandaktion bei zu wenig Hinterhandaktivität
- Fehlende Rumpfaktivität bis Trageerschöpfung
Isländer Fengari steht mit 6 Jahren beidseits rückständig. | Abb. 3
4 Jahre später: Fengari mit 10 Jahren steht nicht mehr beidseits rückständig | Abb. 4
Welche Ursachen müssen bei rückständigen Pferden berücksichtigt werden?
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Kompensationsstrategien bei fehlender Kraft des Pferdes
Vorhandlastigkeit beim jungen und noch kraftlosen Pferd durch die übermäßige Nutzung des M. Latissimus dorsi in der Stützbeinphase. Dieses wird durch übermäßigen Zügeleinsatz des Reiters (wie z. B. das Riegeln) zusätzlich verstärkt.
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Exterieurbedingte Ursachen und ungünstige Hebelverhältnisse
Dazu zählen ein tiefer Halsansatz, ein langer Hals mit großem Kopf, eine eher steile Schulter, ein kurzer Rücken mit schwachem Rumpfträger (M. serratus ventralis), eine gerade oder sehr steile Kruppe und eine schwache Hinterhand ohne ausreichend Schub- und Tragkraft. Kurz gesagt viel Vorhand, keine Mittelhand und wenig Hinterhand.
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Fähigkeiten und Sitz des Reiters
„Der Reiter formt das Pferd“, wie es so schön heißt. Viele Reiter übertragen ihre Asymmetrien, ihren Spannungszustand, ihre Körperhaltung und ihre Energie und Motivation auf ihr Pferd ohne es zu wissen. Jeder von uns hat ein Standbein, dass er vermehrt belastet. Meist sitzen wir zu dieser Seite etwas mehr und belasten somit unbewusst auch die Körperhälfte des Pferdes mehr. Die Folgen sind oft nach einiger Zeit am Sattel (ungleiche Sattelkissen) oder den Steigbügelriemen (unterschiedlich lang) sichtbar. Auch ist bei vielen der Rumpf zu einer Seite mehr gedreht oder geneigt. An sich ist das alles nicht schlimm, wenn der Reiter sich dessen bewusst ist und diese Körperbereiche korrekt ansteuern kann. Auch mangelnde Stabilität und Unbeweglichkeit (Mobilität) des Reiters müssen vom Pferd ausgeglichen werden. Leider beschäftigt sich ein Großteil der Menschen (egal ob Reiter oder Nichtreiter) nicht mit dem eigenen Körper. Viele Reiter schieben daher ihr Pferd unbewusst auf die Vorhand und verlagern dessen Körperschwerpunkt und die Gelenkbelastung nach vorne. Das Pferd muss kompensieren und wird erst deutlicher vorhandlastig und irgendwann rückständig.
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Unpassende Ausrüstung des Pferdes
Passt der Sattel nicht, weil er zu eng ist oder nicht richtig im Schwerpunkt liegt, ist physiologisches Reiten schwierig. Es gibt Studien, die besagen, dass ein unpassender Sattel mit einem gut sitzenden Reiter einem passenden Sattel mit einem schlecht sitzenden Reiter vorzuziehen ist. Jedoch wird erst die Haut und das Unterhautgewebe, dann die Muskulatur und schließlich der gesamte Komplex Pferd früher oder später unter unpassender Ausrüstung leiden. An dieser Stelle möchte ich noch mal betonen, dass es keinen Sinn ergibt, in einem Sattel zu sitzen, der einem selbst nicht passt. Selbst, wenn er laut Sattler perfekt für das Pferd ist. Dass der Sattel Pferd und Reiter passt, hat für mich oberste Priorität bei der Sattelauswahl, auch wenn das manchmal ein sehr nervenaufreibender Weg sein kann und teils viel Geduld und Sorgfalt fordert.
Wie vermeide ich als Reiter mein Pferd auf die Vorhand zu bringen?
Kommen wir zu meinem Herzensthema, dem Reiter und seinem Sitz. Viele Reiter wissen gar nicht, was sie alles Tolles tun können, um ihr Pferd bestmöglich zu fördern und zu unterstützen. Ein wesentlicher Punkt stellt die Position der Sitzbeinknochen (Ossis Ischii) dar. Wenn man sich vorstellt, dass das Becken eine Wasserschüssel wäre, dann gäbe es zwei Extreme und eine Neutralposition in der wir sie positionieren könnten.
Möglichkeit Nummer eins: Die Schüssel, also unser Becken, ist so positioniert, dass es nach vorne gekippt ist. In diesem Falle würde das Wasser aus unserer Schüssel über den Widerrist laufen. Das Becken ist nach vorne gekippt, die Sitzbeinknochen zeigen Richtung Pferdeschweif und es entsteht ein Hohlkreuz in der Lendenwirbelsäule als weiterlaufende Bewegung.
Möglichkeit Nummer zwei wäre, dass das Becken nach hinten gekippt (aufgerichtet) ist. In diesem Fall läuft das Wasser aus unserer Schüssel nach hinten über den Schweif. Die Sitzbeinknochen zeigen nach vorne zum Widerrist und die Lendenwirbelsäule beugt sich, sodass weiterlaufend eher ein Rundrücken entsteht.
Beide Extrempositionen stören das Pferd und erschweren eine korrekte Hilfengebung des Reiters.
Im besten Fall steht die Wasserschüssel gerade auf dem Pferd (Abbildung 5). Das heißt, dass unsere Sitzbeinknochen senkrecht zum Pferd, vertikal nach unten Richtung Boden zeigen. Nur so kann die Wirbelsäule eine für den Reiter neutrale Position einnehmen. Haben die Sitzbeinknochen eine neutrale, fast senkrechte Position, ist die Wirbelsäule aufgerichtet, der Reiter stabil in seiner Körpermitte und liegt der Sattel korrekt im Schwerpunkt, dann sitzt er fast automatisch im Lot.
Abb. 5
Das Lot hat für uns Reiter den Vorteil, dass es uns das optimale Maß an Stabilität und Mobilität bietet ohne, dass wir unseren Körperschwerpunkt verlagern müssen. (Abbildung 6) Für das Pferd bedeutet dies weniger Störfaktoren durch uns Reiter. Lassen wir mal unsere Asymmetrien außen vor, können wir alleine durch diese zwei Punkte, die Ausrichtung der Sitzbeinknochen und die Ausrichtung der Wirbelsäule und des gesamten Sitzes im Lot schon kleine Wunder vollbringen. Zusätzlich empfehle ich die Handtuchübung.
Abb. 6
Wollen wir unser Pferd dahin gehend unterstützen, dass es seinen Brustkorb anhebt, also den M. serratus ventralis ansteuert, die Vorhand mit all seinen Gelenken entlastet und mehr Last mit der Hinterhand aufnimmt, müssen wir unseren Körper an das Bewegungsmuster des Pferdes anpassen bzw. ihm ein Vorbild sein. Weil sich der Brustkorb des Pferdes anheben soll, können wir ihm als Reiter etwas Platz machen. Dazu aktivieren wir einfach unseren Beckenboden, indem wir beide Sitzbeinknochen aufeinanderzuspannen. Wichtig ist, dass der Po locker bleibt. Für die korrekte Ansteuerung nutze ich gerne eine Handtuchrolle. Dazu ein normales Händehandtuch einmal längs falten und dann fest aufrollen: Fertig.
Jetzt die Rolle an die Ecke eines Stuhls legen und sich über Eck draufsetzten. (Abbildung 7) Den Bereich, der jetzt auf der Rolle aufliegt, ziehst Du ein Stück nach oben und versuchst ihn leicht zu machen. Vielleicht hilft Dir das Bild vom Ansaugen des Widerrists. Mit dieser Übung erzeugst Du eine positive Grundspannung, mit der es Deinem Pferd einfacher fällt über den Rücken zu laufen. Wichtig ist dabei, dass weder das Gesäß noch die Oberschenkelmuskulatur angespannt werden soll. Also ohne Klemmen und mit lockerem Po.
Abb. 7
Was kann ich für mein Pferd tun, wenn die Rückständigkeit bereits da ist?
Den ersten Schritt hast Du bereits mit dem Lesen dieses Blogbeitrags gemacht. Wichtig ist, das Auge zu schulen, um Veränderung am Erscheinungsbild und Exterieur, sowie im Gangbild und der allgemeinen Bewegung Deines Pferdes schneller wahrzunehmen. So kannst Du bei kleinsten Veränderungen Ursachenforschung betreiben. Deshalb baue Dir ein gutes Umfeld aus Fachleuten und Experten auf, von denen Du Dich unterstützen lassen kannst. Wichtig ist jetzt, das kommende Training neu auszurichten und vergangene Fehler nicht noch einmal zu machen. Die meisten Pferde lassen sich gut umtrainieren und geben danach so viel mehr zurück als anfangs gedacht.
Natürlich ergibt es Sinn Dein Pferd zusätzlich von einem erfahrenen Therapeuten untersuchen und wenn nötig auch behandeln zu lassen.
Eine Empfehlung von Barbara Welter-Böller für das Training mit rückständigen Pferden ist, ihnen im Schritt minutenweise leichte Gewichtsmanschetten (100-200 g) an die Vorderbeine anzulegen. Dies kann tatsächlich die Vorhandaktion zunächst verbessern, weil vermehrt die Vorführer des Beines, wie der M. Extensor carpi radialis, trainiert werden. Allerdings muss unbedingt darauf geachtet werden, dass Rumpf und die Hinterhand mitkommen, weshalb ich gerne an der Mittelhand starte.
Mein Tipp: Arbeite zuerst die Mitte. Oder anders ausgedrückt: Rumpf ist Trumpf! Ist die Mittelhand aktiv, der Rumpf oben und der Rücken da, läuft´s einfach.
An diesen 4 Punkten erkennst Du, ob Dein Pferd wirklich über den Rücken läuft und seinen Rumpfträger benutzt.
- Der Abstand zwischen Widerrist und Schulterblatt sollte groß sein.
- Der M.Serratus vertralis sollte das Halsdreieck im mittleren 1/3 des Halses ausfüllen
- Das Brustbein sollte nicht zu stark hervorstehen und die Brustbeinline sollte nach oben laufen
- In der Bewegung sollen sich das Brustbein und der Rumpf möglichst wenig absenken. (Abbildung 8)
Abb. 8
Solltest Du jetzt unsicher sein, ob Du womöglich der Grund für die Rückständigkeit Deines Pferdes bist, dann kontaktiere mich gerne. Im Rahmen des „Check up Reitsitz“ analysieren wir genau die Bewegungsübertragung zwischen Dir und Deinem Pferd und finden gemeinsam Lösungsstrategien, die Dich im Alltag unterstützen.
Vielen Dank Dir, liebe Tine, für den Gastbeitrag in Deinem Blog.
Ganz liebe Grüße
Deine Vanessa-Christin Fautsch
Hier geht es auf meine Webseite: reiter-bewegen.de
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